2014. június 10., kedd

Lilli Fredrich: Wie das Bachstelzchen ohne seinen Willen zur Stiefmutter wurde



Herr Weinberger hatte sich am Bergabhang angesiedelt. Hinter dem Gebäude kam erst ein breiter ebener Gang, dann eine gewaltige, von großen Steinen errichtete Mauer, welche das Abrutschen des Berges verhindern sollte. Diese Mauer wurde von Brombeerranken und dunkelrotblättrigen Blutnußträuchern malerisch verschönt.

Wunderhübsch sah das aus, das fanden selbst die gelbschwänziegen Bachstelzchen, die mit Vorliebe in den Spalten zwischen den großen Mauersteinen nisteten.

Nun hatte Herr Weinberger ein etwa neunjähriges Töchterchen, die kleine Annie. Die besaß ein warmes, goldenes Herzchen, ein Herzchen voll Liebe für alles und jedes.

Sie wußte genau, wieviel Vöglein an der Mauer und in den Büschen nisteten, und wieviele Junge sie hatten. Waren die Alten fortgeflogen, um Nahrung zu holen, sok am sie auf den Zehenspitzen dahergehuscht und guckte vorsichtig in das Nest. Sie streute den Alten Semmelkrümchen, damit ihnen die Fütterung der Jungen nicht zu schwer werden möchte, und lächelte in stiller Beglückung, wenn sie die Junge die ersten gelungenen Flugversuche machen sah.

Eines Tages ging ein schwerer Wolkenbruch über das Gebirge nieder. Die Bächlein wurden zu wilden Fluten, die Fluten stürzten mit entwurzelten Bäumen und großen Felstrümmern den Berg hinab.

Dort, wo Herr Weinberger wohnte, war das Unwetter lange nocht so schlimm gewesen, aber ein wolkenbruchartiger Regen war doch niedergegangen.

Kaum hatte es aufgehört zu regnen, so stand Annie lange, lange im schützenden Gebüsch, der Steinmauer gerade gegenüber, und spähte unausgesetzt nach ein und derselben Stelle. Alle Bachstelzen in der Mauer flogen schon aus, um ihren Kleinen das stundenlang entbehrte Futter zu bringen, nur die in dieser Spalte nicht. Man hörte bloß das jammervolle, mitleiderregende Zwitschern der Jungen, das war alles.

Auf Rat der Mutter fütterte sie die Kleinen endlich selber. Sie tauchte winzige Semmelstückchen in erwärmte Milch, brachte diese Nahrung mit einem langstieligen Kochlöffel in die Spalte und schüttete sie dicht vor den Jungen aus.

Die Vögelchen waren jetzt still, aber Annies Sorge blieb unvermindert dieselbe. Was sollte aus den Jungen werden, wenn die Alten wirklich nicht wiederkämen? Ihre Gedanken drehten sich wie in einem Kreisel, und sie wälzte allerhand unruhige Pläne durch ihren Kopf, wie sie den Kleinen wohl helfen könne.

Früh mit dem ersten Lerchenschlag, als kaum der lichte Morgen durchs Fenster schaute, erhob sie sich, denn sie hätte nicht ruhig zur Schule gehen können, wenn sie nicht zuvor gewußt hätte, was aus den jungen Bachstelzen wurde.

Lange stand sie wieder im Gebüsch und lugte nach der Spalte, aber die Alten kamen trozt allen Wartens nicht zum Vorschein, sie konnte nur das klagende Zwitschern der Kleinen vernehmen. Nun wußte sie genau, daß das Unwetter die Alten getötet hatte, und das Mitleid preßte ihr neue Tränen aus.

Plötzlich aber zuckte ein Hoffnungsstrahl in ihr auf. Eilends lief sie in die Küche. Einen Stuhl und ein Körbchen holte sie, trug beides vor die Spalte, kletterte auf den Stuhl und langte sachte, sachte in die Mauer hinein. Leicht war das nicht, sie trug eine Menge Risse und Schrammen davon, aber endlich hatte sie die kleinen Bachstelzchen, hielt die Vögelchen in der wärmenden Hand und legte sie schließlich in den Korb.

Ein anderes Bachstelzenpaar sollte die hilflosen Waisen großziehen, und da sie zu den Nestern in der Mauer schlecht gelangen konnte, eilte sie mit ihrem Körbchen zur Blutnußhecke, denn dort war auch noch eines.

Geduldig wartete sie, bis die Bachstelzenmutter fortgeflogen war, dann steckte sie die drei Waisen in das Nest zu den drei anderen. Nun war das Nestchen übervoll, Annie aber schlüpfte hinter einen Strauch und wollte sehen, was sich jetzt begeben würde.

Eine geraume Weile dauerte es, da kam die Alte endlich wieder und schien einen Käfer im Schnabel zu halten. Rasch flog sie auf ihr Nest zu, wie sie aber die Jungen gewarhte, stutzte sie und änderte die Richtung. So viele Kinder, das konnten unmöglich die ihren sein!

Sie kam jedoch wieder. Die Größe des Nestes, die Höhe vom Erdboden und seine Lage in der Blutnußhecke, es stimmte alles, darum ließ sie sich in einem der schwanken Zweige nieder, blickte tiefsinnig hinab, flog nach einiger Zeit doch auf das Nestchen, breitete weit, weit die Flügel aus und deckte die Kleinen sämtlich zu.

Als Annie mittags aus der Schule heimkehrte, sah sie sofort wieder nach den Waisen. Sie waren noch in dem Nest, die Pflegeeltern hatten sie nicht hinausgeworfen, im Gegenteil, sie flogen unausgesetzt auf und nieder, um die sechs hungrigen Schnäbel zu füllen, denn das war keine Kleinigkeit.

Der angestrengte Eifer, mit welchem die Alten für die unbekannten Pfleglinge sorgten, tat Annie leid, und sie sann in ihrer Warmherzigkeit nach, wie sie ihnen wohl helfen könne. Plötzlich stieß sie einen Freudenlaut aus, stürmte davon, holte einen kleinen Spaten nebst einem irdenen Napf und begann auf dem Hof zu graben. Es hatte ja gestern wie mit Kannen geschüttet, der Boden war heute noch weich, und das Graben wurde ihr nicht schwer.

Sonst hatte sie Regenwürmer nie anfassen mögen, jetzt aber sammelte sie alle, auch die kleinen, denn die brauchte sie erst recht. Wie der Napf ziemlich voll war, eilte sie mit ihm zum Nestchen, das die Alte wieder einmal mit ihren Flügeln deckte.

„Geh”, sagte sie sanft, „ ich will die Kleinen füttern. Ich weiß, Stiefmuttersein ist nicht leicht, die Kinder sind immer unzufrieden, da möchte ich dir gern gelfen.”

Und wunderbar, die Alte, welche die Kleinen mit Daransetzung ihres Lebens vor jeder fremden Berührung geschützt haben würde, gab zögernd das Nestchen frei und flog auf den nächsten Zweig. Die Fütterung begann. Die Jungen bekamen die kleinen Regenwürmer und die Bachstelzenmutter die großen: aber so ganz einfach war die Sache nicht. Wenn die Jungen auch die Schnäbel aufsperrten, daß man ihnen fast in den Magen sehen konnte, waren sie im Zugreifen noch recht unerfahren, und die feuchten, glatten Würmer rutschten öfter weg.

Mit der Zeit aber erreichte die Fütterung ihr Ende. Als Annie abends zum zweiten Male kam, ging’s schon besser, und nach wenigen Tagen rissen sich die Kleinen um die Regenwürmer. Da mußte Annie die kecken, vorlauten Jungen ständig ducken, daß die anderen auch zu ihrem Recht kamen, sie tippte ihnen dabei sachte auf den vorgestreckten Schnabel und sagte lächelnd:

„ Noch nicht, schön abwarten, es geht immer der Reihe nach.”

Die drei Bachstelzenwaisen sind alle groß geworden, und vor Freude darüber ging Annie lange so gehoben umher, als sei ihr das größte Glück widerfahren.

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