Herr Weinberger hatte sich am Bergabhang
angesiedelt. Hinter dem Gebäude kam erst ein breiter ebener Gang, dann eine
gewaltige, von großen Steinen errichtete Mauer, welche das Abrutschen des
Berges verhindern sollte. Diese Mauer wurde von Brombeerranken und
dunkelrotblättrigen Blutnußträuchern malerisch verschönt.
Wunderhübsch sah das aus, das fanden
selbst die gelbschwänziegen Bachstelzchen, die mit Vorliebe in den Spalten
zwischen den großen Mauersteinen nisteten.
Nun hatte Herr Weinberger ein etwa
neunjähriges Töchterchen, die kleine Annie. Die besaß ein warmes, goldenes
Herzchen, ein Herzchen voll Liebe für alles und jedes.
Sie wußte genau, wieviel Vöglein an der
Mauer und in den Büschen nisteten, und wieviele Junge sie hatten. Waren die
Alten fortgeflogen, um Nahrung zu holen, sok am sie auf den Zehenspitzen
dahergehuscht und guckte vorsichtig in das Nest. Sie streute den Alten
Semmelkrümchen, damit ihnen die Fütterung der Jungen nicht zu schwer werden
möchte, und lächelte in stiller Beglückung, wenn sie die Junge die ersten
gelungenen Flugversuche machen sah.
Eines Tages ging ein schwerer Wolkenbruch
über das Gebirge nieder. Die Bächlein wurden zu wilden Fluten, die Fluten
stürzten mit entwurzelten Bäumen und großen Felstrümmern den Berg hinab.
Dort, wo Herr Weinberger wohnte, war das
Unwetter lange nocht so schlimm gewesen, aber ein wolkenbruchartiger Regen war
doch niedergegangen.
Kaum hatte es aufgehört zu regnen, so
stand Annie lange, lange im schützenden Gebüsch, der Steinmauer gerade
gegenüber, und spähte unausgesetzt nach ein und derselben Stelle. Alle
Bachstelzen in der Mauer flogen schon aus, um ihren Kleinen das stundenlang
entbehrte Futter zu bringen, nur die in dieser Spalte nicht. Man hörte bloß das
jammervolle, mitleiderregende Zwitschern der Jungen, das war alles.
Auf Rat der Mutter fütterte sie die
Kleinen endlich selber. Sie tauchte winzige Semmelstückchen in erwärmte Milch,
brachte diese Nahrung mit einem langstieligen Kochlöffel in die Spalte und
schüttete sie dicht vor den Jungen aus.
Die Vögelchen waren jetzt still, aber
Annies Sorge blieb unvermindert dieselbe. Was sollte aus den Jungen werden,
wenn die Alten wirklich nicht wiederkämen? Ihre Gedanken drehten sich wie in
einem Kreisel, und sie wälzte allerhand unruhige Pläne durch ihren Kopf, wie
sie den Kleinen wohl helfen könne.
Früh mit dem ersten Lerchenschlag, als
kaum der lichte Morgen durchs Fenster schaute, erhob sie sich, denn sie hätte
nicht ruhig zur Schule gehen können, wenn sie nicht zuvor gewußt hätte, was aus
den jungen Bachstelzen wurde.
Lange stand sie wieder im Gebüsch und
lugte nach der Spalte, aber die Alten kamen trozt allen Wartens nicht zum
Vorschein, sie konnte nur das klagende Zwitschern der Kleinen vernehmen. Nun
wußte sie genau, daß das Unwetter die Alten getötet hatte, und das Mitleid
preßte ihr neue Tränen aus.
Plötzlich aber zuckte ein Hoffnungsstrahl
in ihr auf. Eilends lief sie in die Küche. Einen Stuhl und ein Körbchen holte
sie, trug beides vor die Spalte, kletterte auf den Stuhl und langte sachte,
sachte in die Mauer hinein. Leicht war das nicht, sie trug eine Menge Risse und
Schrammen davon, aber endlich hatte sie die kleinen Bachstelzchen, hielt die
Vögelchen in der wärmenden Hand und legte sie schließlich in den Korb.
Ein anderes Bachstelzenpaar sollte die
hilflosen Waisen großziehen, und da sie zu den Nestern in der Mauer schlecht
gelangen konnte, eilte sie mit ihrem Körbchen zur Blutnußhecke, denn dort war
auch noch eines.
Geduldig wartete sie, bis die
Bachstelzenmutter fortgeflogen war, dann steckte sie die drei Waisen in das
Nest zu den drei anderen. Nun war das Nestchen übervoll, Annie aber schlüpfte
hinter einen Strauch und wollte sehen, was sich jetzt begeben würde.
Eine geraume Weile dauerte es, da kam die
Alte endlich wieder und schien einen Käfer im Schnabel zu halten. Rasch flog
sie auf ihr Nest zu, wie sie aber die Jungen gewarhte, stutzte sie und änderte
die Richtung. So viele Kinder, das konnten unmöglich die ihren sein!
Sie kam jedoch wieder. Die Größe des
Nestes, die Höhe vom Erdboden und seine Lage in der Blutnußhecke, es stimmte
alles, darum ließ sie sich in einem der schwanken Zweige nieder, blickte
tiefsinnig hinab, flog nach einiger Zeit doch auf das Nestchen, breitete weit,
weit die Flügel aus und deckte die Kleinen sämtlich zu.
Als Annie mittags aus der Schule
heimkehrte, sah sie sofort wieder nach den Waisen. Sie waren noch in dem Nest,
die Pflegeeltern hatten sie nicht hinausgeworfen, im Gegenteil, sie flogen
unausgesetzt auf und nieder, um die sechs hungrigen Schnäbel zu füllen, denn
das war keine Kleinigkeit.
Der angestrengte Eifer, mit welchem die
Alten für die unbekannten Pfleglinge sorgten, tat Annie leid, und sie sann in
ihrer Warmherzigkeit nach, wie sie ihnen wohl helfen könne. Plötzlich stieß sie
einen Freudenlaut aus, stürmte davon, holte einen kleinen Spaten nebst einem
irdenen Napf und begann auf dem Hof zu graben. Es hatte ja gestern wie mit
Kannen geschüttet, der Boden war heute noch weich, und das Graben wurde ihr
nicht schwer.
Sonst hatte sie Regenwürmer nie anfassen
mögen, jetzt aber sammelte sie alle, auch die kleinen, denn die brauchte sie
erst recht. Wie der Napf ziemlich voll war, eilte sie mit ihm zum Nestchen, das
die Alte wieder einmal mit ihren Flügeln deckte.
„Geh”, sagte sie sanft, „ ich will die Kleinen
füttern. Ich weiß, Stiefmuttersein ist nicht leicht, die Kinder sind immer
unzufrieden, da möchte ich dir gern gelfen.”
Und wunderbar, die Alte, welche die
Kleinen mit Daransetzung ihres Lebens vor jeder fremden Berührung geschützt
haben würde, gab zögernd das Nestchen frei und flog auf den nächsten Zweig. Die
Fütterung begann. Die Jungen bekamen die kleinen Regenwürmer und die
Bachstelzenmutter die großen: aber so ganz einfach war die Sache nicht. Wenn
die Jungen auch die Schnäbel aufsperrten, daß man ihnen fast in den Magen sehen
konnte, waren sie im Zugreifen noch recht unerfahren, und die feuchten, glatten
Würmer rutschten öfter weg.
Mit der Zeit aber erreichte die Fütterung
ihr Ende. Als Annie abends zum zweiten Male kam, ging’s schon besser, und nach
wenigen Tagen rissen sich die Kleinen um die Regenwürmer. Da mußte Annie die
kecken, vorlauten Jungen ständig ducken, daß die anderen auch zu ihrem Recht
kamen, sie tippte ihnen dabei sachte auf den vorgestreckten Schnabel und sagte
lächelnd:
„ Noch nicht, schön abwarten, es geht
immer der Reihe nach.”
Die drei Bachstelzenwaisen sind alle groß
geworden, und vor Freude darüber ging Annie lange so gehoben umher, als sei ihr
das größte Glück widerfahren.
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